04.01.2023 Waiblinger Kreiszeitung Wenn aus Helden Zielscheiben werden
Die Angriffe auf Rettungskräfte zum Jahreswechsel sind nur die extreme Ausprägung einer längeren Entwicklung. Retter beklagen, dass in manchen Milieus jeglicher Respekt verschwunden ist. Lösungen sind schwierig. Von Jürgen Bock
BERLIN/STUTTGARTEs sind schier unfassbare Szenen. Junge Männer, teils noch Jugendliche, verwandeln die Straßen Berlins, aber auch mancher anderer Städte in ein Schlachtfeld. Die Videos, die vom Jahreswechsel im Internet kursieren, zeigen Bilder, wie man sie in Deutschland noch nicht oft gesehen hat. Da werden Raketen aus der Hand auf andere Menschen abgeschossen. Junge Kerle in Macho-Pose ballern mit Schusswaffen, deren Typ nicht genau erkennbar ist, wild um sich. Eine Mutter mit Kinderwagen flüchtet geradezu panisch im Laufschritt durch dichte Rauchschwaden.
Doch die erschütterndsten Sequenzen folgen erst noch. Ein Rettungswagen wird in voller Fahrt und mit Patient an Bord mit einem Feuerlöscher beworfen. Die Frontscheibe zersplittert. An anderer Stelle in Berlin lockt ein Mob aus etwa 25 Tätern ein Feuerwehrfahrzeug in einen Hinterhalt. Mit brennenden Barrikaden wird der Wagen gestoppt und dann unter massiven Beschuss genommen. Die Besatzung flüchtet, die Meute versucht, das Fahrzeug zu plündern.
An Neujahr spricht die Berliner Feuerwehr von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“. Über 30 Verletzte bei Feuerwehr und Polizei zählt man allein in der Hauptstadt. Doch auch anderswo werden Einsatzkräfte mit Raketen beschossen oder gar mit selbst gebauten Bomben attackiert. Die Aggressivität, da sind sich Politiker und Retter schnell einig, hat nie gekannte Dimensionen erreicht. Dabei ist das Phänomen nicht neu.
Die Polizei ist schon lange zur Zielscheibe geworden, zum erklärten Feind so mancher Gruppe. Hinzu gekommen sind in den vergangenen Jahren Angriffe auch auf Rettungskräfte, Feuerwehrleute und medizinisches Personal – selbst in Krankenhäusern. Besonders die Notaufnahmen haben sich zu kritischen Einrichtungen entwickelt, in denen Beschimpfungen, Pöbeleien und Übergriffe zum Alltag gehören.
„Es gibt viele Leute, die vor nichts und niemandem mehr Respekt haben“, sagt ein Notfallsanitäter aus Baden-Württemberg. Man wisse letztlich nie, was einen im Einsatz erwarte. „Früher waren wir hochwillkommen, weil wir als Helfer gesehen wurden. Heute ist die Grundstimmung viel öfter aggressiv. Man wird gefilmt, alles wird infrage gestellt, Angehörige oder die Patienten selbst machen Schwierigkeiten“, so der erfahrene Retter. Das passiere überall, aber besonders häufig dort, wo migrantische Parallelgesellschaften entstanden seien. „Dort empfindet man den Staat und alle seine Vertreter als schwach und verachtet sie.“
Retter als Prügelknaben
Von einem „gesellschaftlichen Phänomen“ spricht man beim Deutschen Roten Kreuz (DRK). „Es handelt sich um eine langfristige Entwicklung“, sagt Udo Bangerter, Sprecher des DRK-Landesverbands Baden-Württemberg. Manche hegten grundsätzliche Skepsis gegenüber Menschen in Uniform. Zudem herrsche eine Dienstleistungsmentalität: Die Leute glauben, sie könnten tun und lassen, was sie wollen, und hätten dennoch selbstverständlich Anspruch auf jegliche Leistung, die sie wünschen. Der Retter wird zum Prügelknaben, der zur Verfügung zu stehen hat, wenn man ihn braucht.
Aus dem medizinischen Bereich ist zu hören, dass sich diese Tendenz durch die Coronapandemie verstärkt hat. Manche Leute fühlten sich von Schutzmaßnahmen gegängelt oder durch volle Notaufnahmen belästigt, erzählen Ärzte. In vielen Kliniken gibt es inzwischen Sicherheitsdienste. „Die Lage hat sich verschlimmert. Mittlerweile ist jeder, der irgendwo im öffentlichen Bereich arbeitet, Ziel von Attacken“, sagt Arno Dick, Leiter der Fachgruppe Feuerwehr bei der Gewerkschaft Verdi. „Das geht bei Beleidigungen los und endet bei Gewalt.“
Soll man die Retter also aufrüsten? Da gehen selbst die Meinungen der Betroffenen auseinander. Während die Feuerwehr in Berlin bereits Bodycams, also Körperkameras, testet und Dashcams an den Fahrzeugen fordert, um das Geschehen zu filmen, ist man auf Bundesebene skeptisch. „Dashcams sind eine Möglichkeit, sie haben aber einen eingeschränkten Blickwinkel. Und Bodycams mögen sich für die Polizei eignen, zumindest für den Rettungsdienst tun sie das aber nicht“, sagt Tobias Thiele, Sprecher der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft. Man behandle Verletzte und sei in Privatwohnungen im Einsatz.
Auch bei Verdi gibt es Zweifel: „Dafür geht man zu sehr in die Privatsphäre der Patienten rein“, sagt Fachgruppenleiter Arno Dick. Es gibt in der Sache keine einheitliche Vorgehensweise, denn die Retter sind in Deutschland Ländersache. Da gibt es durchaus unterschiedliche Ansätze. Immer wieder kommt da etwa die Forderung nach Schutzwesten oder gar Abwehrsprays auf. Manche Notfallsanitäter belegen auch Selbstverteidigungskurse.
"Es gilt die Maxime, dass unsere Leute sich nicht selbst in Gefahr bringen sollen." Udo Bangerter, Sprecher des DRK-Landesverbands
Beim Roten Kreuz sieht man grundsätzlich aber jede Aufrüstung skeptisch. „Es gilt die Maxime, dass unsere Leute sich nicht in Gefahr bringen sollen. Sie sollen sich in solchen Fällen zurückziehen und auf die Polizei warten“, sagt Sprecher Bangerter. Man setze „voll auf Deeskalation“. In der neuen Ausbildung zum Notfallsanitäter nehme das Thema deutlich mehr Raum ein als früher, dazu kämen Fortbildungen. Allerdings lassen sich gelernte Strategien nur dann anwenden, wenn die Situation erkennbar ist und es Spielraum gibt. Wenn wie in Berlin Rettern gezielt aufgelauert wird, ist Deeskalation schwierig. Und der Rückzug ist es im häufigsten Konfrontationsfall auch: nämlich dann, wenn ein Patient oder andere Beteiligte plötzlich aggressiv werden. Das passiert oft dann, wenn Alkohol im Spiel ist oder eine psychische Erkrankung vorliegt.
Konsequente Bestrafung
„Der Eigenschutz steht im Zusammenhang mit den verbalen und tätlichen Übergriffen auf Rettungskräfte im Vordergrund“, heißt es auch im Innenministerium Baden-Württemberg. Dabei erlange die „Vermittlung von Kommunikations- und Deeskalationsstrategien sowie das Erkennen des Eskalationspotenzials an Einsatzstellen“ eine wesentliche Bedeutung. Dazu kommt auf politischer Seite der Versuch, durch Kampagnen der gesellschaftlichen Verrohung entgegenzuwirken. Die neueste heißt „Schutz geht nur gemeinsam. Eine Kampagne für die Pfeiler unserer Gesellschaft“. Denn die geraten derzeit ins Wanken.
Ob so etwas Menschen, die jeden Respekt verloren haben, beeindruckt, darf bezweifelt werden. Deshalb bleibt letztlich nur der Ruf nach konsequenter Strafverfolgung. Zumindest darin sind sich alle einig. „Wer Einsatzkräfte bedroht oder gar verletzt, beschädigt das gesellschaftliche Klima und den Zusammenhalt, er überschreitet eine rote Linie“, sagt Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl. Das mögliche Strafmaß ist vor einigen Jahren verschärft worden und sei hoch genug, betonen alle. Es müsse aber konsequent und schnell angewendet werden, fordert Siegfried Maier, Bundesvorsitzender der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft: „Es ist dringend notwendig, dass die Täter jetzt schnell identifiziert und verurteilt werden. Eine konsequente Strafverfolgung würde auch unseren Kollegen und Kolleginnen das wichtige Zeichen geben, dass sie nicht allein sind.“
Zumindest dafür kann die Eitelkeit einiger Randalierer nützlich sein. Denn mancher scheut sich nicht, auf Handyfilmchen deutlich erkennbar vor der Kamera zu posieren. Den einen oder anderen könnte das hinter Gitter bringen. Dann ganz ohne Böller, Raketen und Macho-Posen.